Die fünf Fachverbände für Menschen mit Behinderung repräsentieren ca. 90 % der Dienste und Einrichtungen für Menschen mit geistiger, seelischer, körperlicher oder mehrfacher Behinderung in Deutschland. Ethisches Fundament der Zusammenarbeit der Fachverbände für Menschen mit Behinderung ist das gemeinsame Bekenntnis zur Menschenwürde sowie zum Recht auf Selbstbestimmung und auf volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung am Leben in der Gesellschaft. Ihre zentrale Aufgabe sehen die Fachverbände in der Wahrung der Rechte und Interessen von Menschen mit geistiger, seelischer, körperlicher oder mehrfacher Behinderung in einer sich immerfort verändernden Gesellschaft.
I. Vorbemerkung
Die Fachverbände für Menschen mit Behinderung bedanken sich für die Möglichkeit zur Vorabevaluation der Verordnung über die Leistungsberechtigung in der Eingliederungshilfe (VOLE) Stellung zu nehmen sowie für das umfassende Gespräch zur Neuformulierung der VOLE am 23.04.2024. Die Fachverbände für Menschen mit Behinderung gehen davon aus, dass sie auch nach Vorlage einer neu formulierten VOLE im Herbst 2025 erneut beteiligt werden.
II. Zusammenfassung
Aus dem Bundesteilhabegesetz hatte sich für den Verordnungsgeber gemäß § 99 Abs. 4 SGB IX der Auftrag ergeben, auf Grundlage des Behinderungsbegriffs in § 2 Abs.1 SGB IX und insbesondere des § 99 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB IX durch eine Rechtsverordnung die Kriterien der Leistungsberechtigung für die Eingliederungshilfe neu zu bestimmen, um die bisherige Eingliederungshilfe-Verordnung - zuletzt substanziell im Jahre 1975, noch zur Zeit der Geltung des Bundessozialhilfegesetzes, geändert - abzulösen.
Das sollte gemäß Art. 25 Abs. 5 und Art. 25a BTHG ausdrücklich im Einklang mit der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) (UN 2006) und der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) (WHO 2001) erfolgen.
Die maßgebliche Vorgabe des Parlaments-Ausschusses lautete: "Eine Neudefinition im Lichte der UN-Behindertenrechtskonvention und in Orientierung an der ICF soll erst dann in Kraft treten, wenn gesichert ist, dass sie nicht zu einer Verschlechterung führt.
Ein erster Versuch, über eine quasi quantitative Herangehensweise die Wesentlichkeit der Behinderung bzw. Teilhabebeeinträchtigung zu bestimmen, indem für die Leistungsberechtigung eine bestimmte Anzahl von Teilhabebereichen der insgesamt neun Teilhabebereiche der ICF, die in § 113 SGB IX aufgenommen worden waren, beeinträchtigt sein sollte, hat sich nach wissenschaftlicher Prüfung2 als ungeeignet erwiesen.
Seit 2018 wurde deshalb in einer vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales einberufenen Arbeitsgruppe ein neuer Verordnungsentwurf erarbeitet. Der Entwurf der VOLE wurde bereits von Teilen der Arbeitsgruppe als unbefriedigend angesehen, da darin die Wesentlichkeit der Behinderung unmittelbar aus der Erheblichkeit der zugrundeliegenden Gesundheitsstörungen oder der Beeinträchtigung der Funktionen hergeleitet wurde, was nicht den konzeptionellen Anforderungen der Art. 1 Abs. 2 UN-BRK und § 2 Abs. 1 SGB IX, abgeleitet aus der ICF, entspricht. Vielmehr sieht das bio-psycho-soziale Modell von Behinderung vor, dass stets die Wechselwirkung der gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Person mit ihren einstellungs- und umweltbedingten Barrieren zu berücksichtigen ist.
Die vom BMAS beauftragte "Untersuchung der Auswirkungen der Neufassung der den Leistungszugang in der Eingliederungshilfe konkretisierenden Verordnung" hat ergeben (vgl. dazu im Detail unter III.),
- dass die Formulierungen des VOLE-Entwurfs weder den konzeptionellen noch den terminologischen Anforderungen gerecht werden, die sich aus dem geforderten Bezug auf ICF, UN-BRK und aus § 99 Abs. 1 SGB IX ergeben,
- dass insbesondere die gewählten Begrifflichkeiten für Beeinträchtigungen nicht durchgängig mit der ICF kompatibel sind und die aufgeführten Diagnosen nicht dem aktuellen Stand der Internationalen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD) in der derzeit noch in Deutschland gültigen 10. Fassung der ICD (ICD-10) entsprechen.
Der auf die Verwaltungspraxis bezogene Teil der Untersuchung zeigte, dass sich die an der Erprobung des VOLE-Entwurfs im Vergleich mit der Eingliederungshilfe-Verordnung beteiligten Verwaltungspraktiker:innen bei der Beurteilung der Wesentlichkeit einer Behinderung am ehesten von der Erheblichkeit der gesundheitlichen Beeinträchtigung leiten lassen.
In Anlehnung an die Entscheidungen der deutschen Obergerichte , die bislang zur Frage der Wesentlichkeit der Behinderung entschieden haben, dass es zur Bestimmung der Wesentlichkeit einer Behinderung nicht darauf ankommt, wie stark die Beeinträchtigung ist und in welchem Umfang ein Funktionsdefizit vorliegt, sondern wie sich die Beeinträchtigung auf die Teilhabemöglichkeit auswirkt, zeigt sich eine Diskrepanz zum vorliegenden VOLE-Entwurf.
Die gesamte Stellungnahme steht Ihnen als Download zur Verfügung.